Podcast »Hinterbühne« Folge 30 mit Annett Göhre

Transkript

Intro:
»Hinterbühne«, der Podcast des Theaters Ulm, mit Gesprächen irgendwo zwischen Foyer, Rang, Podium und hinter der Bühne.

Christian Stolz:
Herzlich Willkommen zu einer neuen Folge des Podcasts. Heute geht es um Tanz und ich darf zu Gast sein bei Tanztheaterdirektorin Annett Göhre. Sie arbeitet gerade an einem der gewaltigsten Werke der Musik- und Tanzgeschichte, »Le Sacre du printemps« von Igor Strawinsky, auf Deutsch übersetzt »Das Frühlingsopfer«. Und das hat jetzt im April im Tanz Premiere. Eine Komposition von nur rund 35 Minuten, die es aber in sich hat: Um »Sacre« zu choreografieren, muss man schon einiges in seiner Tanzkarriere erlebt haben, und Annett Göhre hat schon einiges erlebt. Was genau, das möchte ich sie heute gerne fragen. Hallo, Annett!

Annett Göhre:
Hallo!

Christian Stolz:
Vor »Sacre« haben viele Respekt, viele Choreografen, sicherlich auch viele Tänzer. Warum, was ist der Grund dafür?

Annett Göhre:
Also das ist tatsächlich ein Stück, das einen als Musiker, als Choreograf, als Tänzer unheimlich fordert. Es ist eine wahnsinnig komplexe Komposition. Und es gibt auch schon ganz tolle, unterschiedliche Choreografien von diesem Stück, zum Beispiel von Pina Bausch. Man kann gefühlt als Choreograf oder Choreografin, wenn man sich diesem Werk nähert, eigentlich nur scheitern, und die Frage ist, wie hoch man scheitert. Ich glaube, man hat einfach Respekt. Jeder, den ich kenne, jeder Musiker, jeder Tänzer, jede Choreografin, alle: Man hat unfassbar großen Respekt vor diesem Stück, weil es so gewaltig ist, weil es einen so mitreißt, weil man das Gefühl hat, auch der unglaublichen Musik an Choreografie etwas entgegensetzen zu müssen, was damit auch mithalten kann, und das ist nicht ohne. Ich habe immer gesagt, entweder kann man »Sacre« als ganz junger Mensch machen, wenn man noch genügend Chuzpe hat, vielleicht auch noch nicht so oft gescheitert ist oder noch nicht so viele Rückschläge erlebt hat, wenn man das alles vielleicht ein bisschen leichter nimmt und noch mehr Selbstvertrauen hat, oder dann als Alterswerk. Aber wenn man so in der Mitte seiner Laufbahn steht, kann man es eigentlich gar nicht machen. Und ich glaube, das war jetzt dumm von mir, das gesagt zu haben, weil ich ahne, was jetzt die nächste Frage sein wird.

Christian Stolz:
Annett, du bist weder am Anfang noch am Ende deiner choreografischen Laufbahn, sondern in der Mitte. Warum ist jetzt für dich der gute Zeitpunkt dafür?

Annett Göhre:
Ich habe es befürchtet, aber ich habe den Ball ja selbst vors Tor gelegt. Es ist so, als ich mich entschieden habe, hier »Sacre« zu machen – das war auch schon länger in mir drin, dieser Wunsch, dieses Stück zu machen. Und auch mit Annett Hunger hatten wir vor langer Zeit schon mal Gespräche dazu und hatten schon mal angedacht, es in Angriff zu nehmen. Dann kam aber Corona und es ist eines dieser Dinge gewesen, die dadurch dann überhaupt nicht mehr weiterverfolgt werden konnten, die gar nicht mehr stattfinden konnten und auch gar nicht mehr weiter gedacht wurden. Also es war wirklich noch ganz am Anfang, es waren die ersten Überlegungen, und seitdem hat mich das eigentlich nicht mehr losgelassen. Es ist ja schon so, dass wir uns hier momentan ein Stück weit an einem Wendepunkt befinden, was dieses Theater betrifft. Als ich die Entscheidung traf, dieses Stück zu machen, stand mir das klar vor Augen. Vielleicht war das mit ausschlaggebend, warum ich dann gedacht habe: Ok, wer weiß, ob das hier auch irgendwie für mich ein Ende oder einen Anfang bedeutet, in jedem Fall aber eben einen Wendepunkt. Und da fand ich es dann auch richtig, das zu wagen.

Christian Stolz:
Was erwartet das Publikum an diesem Abend?

Annett Göhre:
Für mich war relativ schnell klar, dass »Le Sacre du printemps« auch als Thema interessant ist. Das Frühlingsopfer, also etwas zu opfern für die Gemeinschaft – in diesem Fall sogar ein Leben – dieses Ritual zu vollziehen, da steckt so viel drin: die Frage nach den Ritualen in unserer Gesellschaft, nach der Bedeutung von Ritualen in unserer Gesellschaft, ob wir noch genügend Rituale haben. Was bedeutet es, Opfer zu bringen? Sind wir überhaupt noch bereit, Opfer zu bringen? Und all diese Themen sind so groß und vielschichtig, dass für mich relativ schnell klar war, dass ich dieser Thematik gerne einen ganzen Abend widmen möchte. Ich wollte nicht, dass es als Zweiteiler oder auch als Dreiteiler gemacht wird, mit einem ganz anderen Stück und einem ganz anderen Thema zusammen, wie es oft üblich ist, weil »Sacre« eben in Anführungszeichen nur 35 Minuten lang ist. Daher war für mich eben klar: Das möchte ich so nicht. Es wird an diesem Abend auch noch andere Musik geben, nämlich das »Trittico Botticelliano« von Ottorino Respighi, das aber für mich als eine Art Prolog gedacht ist, was letztendlich hinführen soll zu diesem »Sacre«. Der Abend wird also keine Pause haben, bei dem das Publikum dann erstmal den Saal verlässt, sondern es ist thematisch ein Abend, ein Stück sozusagen.

Christian Stolz:
Wenn wir noch kurz bei den Herausforderungen von diesem Stück »Sacre« für eine Tänzerkarriere, auch für eine Choreografenkarriere bleiben: Es geht einerseits viel um das Zählen in diesem Stück, was es so herausfordernd macht, oder? Weil ihr im Tanz ein bestimmtes Zählprinzip habt und Strawinsky dort einiges von euch fordert?

Annett Göhre:
Absolut. Es ist so, dass es bei Balletten, bei Tanzstücken eben hilfreich ist, wenn innerhalb gewisser Szenen der Takt nicht ständig wechselt. Das erleichtert uns natürlich das Zählen. Wenn zum Beispiel eine Szene in einem Viervierteltakt geschrieben ist, dass das dann durchgängig ist, dass man nicht mal einen Viervierteltakt zählen muss und mal einen Dreivierteltakt und mal einen Fünfvierteltakt und so weiter. Strawinsky hat sich darum aber relativ wenig geschert und hat das rhythmisch einfach ganz anders gestaltet, woraus die enorme Kraft des Stückes zum Teil ja auch erwächst. Damit macht er es aber den Tänzerinnen und Tänzern extrem schwer und auch den Choreografen natürlich, denn wenn man der Musik tänzerisch gesehen Herr werden oder Frau werden möchte, dann bleibt einem gar nichts anderes übrig, als das minutiös auswendig zu lernen und irgendwie für sich aufzubrechen. Man muss genau wissen, dass man mal bis 5 und dann bis 3 und dann bis 4 zählt, wobei aber dann die 2 noch einen Akzent hat und so weiter. Das erfordert unglaublich viel Konzentration und Fokus und ist nicht so intuitiv und automatisch, wie es vielleicht bei anderen Balletten sein kann.

Christian Stolz:
»Sacre« ist wie immer einmal im Jahr eine Produktion hier im Tanztheater mit Orchester. Man kann sagen, ihr seid jetzt in der Mitte der Probenphase. Es geht schon so langsam in die Endprobenphase, wie wir das nennen. Also die Phase, in der auch das Licht auf der Bühne dann original ausgespielt wird, wo wir Kostüme haben, wo das Orchester dazu kommt, das auch gerade probt. Wie ist das in so einer Phase, ein paar Wochen vor so einer Premiere, was passiert da alles bis zu einer vollendeten Tanzpremiere?

Annett Göhre:
Bis hierhin ist quasi das Grundkonzept erstellt. Auch von Seiten der Ausstattung ist das natürlich schon lange an die Werkstätten weitergegeben. Die Kostüme sind in der Anfertigung, das heißt, die Tänzerinnen und Tänzer müssen immer mal wieder zu den Anproben gehen, da werden noch leichte Änderungen vorgenommen. Ich versuche als Choreografin sowohl Kostüm als auch die Bühnenelemente mit den tänzerischen Elementen zu vereinen, das zu verbinden, dass das dann auch ein Konzept aus einem Guss wird. Ich versuche schon seit vielen Wochen, diesen Klavierauszug zu durchdringen und zu verstehen. Da habe ich mir mitunter auch Hilfe geholt und das erfordert einige Stunden, und aufgrund der Komplexität eben mehr Stunden als normalerweise. Mein Tag sieht so aus, dass ich mich meistens zweimal für circa eine Stunde komplett zurückziehe, die nächsten Szenen dann im Detail vorbereite und sie zwischendurch dann mit den Tänzern einstudiere, was zum Teil noch im Ballettsaal stattfindet. Zum Teil sind wir jetzt aber auch schon auf der Bühne. In der nächsten Woche ist die TE, das heißt die technische Einrichtung. Da wird dann zum ersten Mal alles im Original auf der Bühne aufgebaut, vom Licht, vom Boden, von anderen Bühnenelementen, die man noch hat, damit dann so langsam alles zusammenkommen kann.

Christian Stolz:
In den probenfreien Stunden bist du immer wieder hier. Ich weiß nicht, ob Sie es hören, liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer: Im Hintergrund hört man Leute sich einsingen für die heutige Abendvorstellung. Du hast auch in deinem Büro ein bisschen Soundkulisse.

Annett Göhre:
Immer, ja. Und es ist auch toll, das macht ja auch Theater aus und manchmal finde ich das irgendwie auch ganz schön, weil man dann weiß, dass man nicht nur alleine arbeitet. Andere arbeiten auch. Manchmal lenkt es einen auch ein bisschen ab und man kann ein bisschen zuhören, wie zwei Zimmer weiter etwas anderes geprobt wird. Manchmal höre ich auch schon »Sacre«-Klänge im Hause, weil einzelne Musikerinnen und Musiker das üben, das finde ich auch toll. Also da liegt immer so eine gewisse Spannung in der Luft und es ist genau das, was ich so liebe am Theater.

Christian Stolz:
In Vorfreude auf diese Premiere und auf die Vorstellungen sind wir jetzt gerade auf dieses Stück eingegangen, auf den aktuellen Punkt in deiner Laufbahn als Choreografin. Jetzt gehen wir doch mal im weiteren Verlauf dieser Folge einen Schritt zurück oder viele Schritte zurück, quasi ein Zeitsprung in deine ganz frühe Zeit, in die sehr junge Annett Göhre: Wie hat deine Karriere oder dein Weg überhaupt erst mal als Tänzerin begonnen, wann hast du mit dem Tanz angefangen?

Annett Göhre:
Also ich habe angefangen mit zehn Jahren an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Und ich komme jetzt aus keiner Künstlerfamilie. Ich komme ja aus der ehemaligen DDR, und meine Eltern haben sich damals überlegt … Das war nicht so einfach im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn man studieren wollte. Das wurde mitunter auch nicht so gern gesehen oder war eben nicht so einfach, wenn schon mehrere Familienmitglieder auch studiert hatten und so weiter. Jedenfalls haben meine Eltern sich überlegt: Was machen wir mit dem Kind? - Die ist gut in der Schule, dünn ist sie auch. - Ah, prima, wir könnten sie ja zum Ballett schicken. Weil natürlich auch das Theater so ein Ort war, wo es eine gewisse Offenheit gab. Meine Eltern haben sich dann auch überlegt, dass das vielleicht auch ein guter Ort für mich sein könnte, um auch ein bisschen so dieser Strenge zu entgehen, vielleicht auch mal die Möglichkeit zu bekommen, meinen Kopf ein bisschen über den Tellerrand hinauszustrecken und andere Perspektiven auf gewisse Dinge und die Welt mitzubekommen. Und so kam das eigentlich, dass meine Eltern mich zum Eignungstest an die Berliner Ballettschule geschickt haben. Da war ich acht Jahre alt. Und wenn man den bestanden hat, dann wird man eingeladen ein Jahr später zur Aufnahmeprüfung. Und wenn man die dann bestanden hat, dann geht es mit zehn richtig hart los. Und ich hatte überhaupt keine Ahnung von Ballett, ich war vorher im Geräteturnen und habe eben Akkordeon gespielt und habe noch so einige andere Sachen gemacht. Und bin dann also zu diesem Eignungstest gegangen, ohne überhaupt auch nur im Ansatz zu wissen, was mich da erwarten könnte. Und ich wurde dann aus so einer Reihe ... Ich glaube es waren 100, 200 Kinder da … Und ich wurde dann aus dieser Reihe rausgepickt in der Gruppe, wo ich war und wurde in einen extra Saal geleitet von dieser einen sehr streng aussehenden Lehrerin, also mit so ganz streng zurückgekämmten Haaren und Dutt, wie man das ja in der Ballettwelt total kennt. Aber das war eben nicht meine Welt. Und ich sollte mich an die Stange stellen, was ich dann auch tat, und sie nahm also mein rechtes Bein in die Hand und drückte das so an der Seite hoch, um meine Flexibilität zu testen. Und völlig selbstverständlich, weil ich gar nicht wusste, was das eigentlich soll, habe ich die Dame angeguckt und habe gesagt: Aua. Aber eigentlich eher so fragend, so ein bisschen: Was machen sie da? Und dann hat die mich angeguckt und hat gesagt: Aua gibt es bei uns nicht. Und da war ich so perplex, was jetzt nicht oft vorkam, ich war so perplex, dass ich nur gesagt hab: ach so. Und dann habe ich wieder geradeaus geguckt und habe diese Lehrerin ihr Ding machen lassen. Und das war meine erste Berührung mit dem Tanz und dem Ballett. Und als dann also klar war, ich wurde da … bin da aufgenommen worden. Dann habe ich ein Buch gelesen, das hieß »Galja, die Tänzerin« und es ging um Galina Ulanowa und ihren Weg, wie sie eben gekämpft hat an der Ballettschule und wie das dann weiter ging. Da habe ich so richtig Feuer gefangen irgendwie, dann war ich so richtig Feuer und Flamme und wollte das unbedingt.

Christian Stolz:
Und wie kann man sich das dann vorstellen? Mit zehn Jahren wurdest du an der Ballettschule aufgenommen und das bedeutet, du hast dann neben der normalen Schulzeit an dieser Ballettschule deinen Unterricht gehabt, oder wie kann man sich diese Jahre danach vorstellen?

Annett Göhre:
Auf der Staatlichen Ballettschule Berlin war das tatsächlich vermischt. Nicht so, wie es in anderen Schulen ist, zum Beispiel an der Bosl, dass man halt in der Früh aufs Gymnasium oder in seine Schule gegangen ist und dann nachmittags zum Ballettunterricht, sondern das war an einer Schule. Man hatte zum Beispiel um 8 Uhr klassisches Training, um 10 Uhr dann Mathe. Um 12 Uhr dann später Pas de deux und so weiter. Das war durchaus ein sehr einzigartiges Konzept, was aber im Osten, also in der DDR, auch an der Palucca-Schule, so gehandhabt wurde. Dadurch war ich dann auch für acht Jahre auf dem Internat. Mit zehn kommt man dann aufs Internat, also mit zehn geht man von zu Hause weg, ist die ganze Woche nicht zu Hause und das hat mich natürlich auch geprägt. Das ist auch eine ganz wichtige Phase gewesen.

Christian Stolz:
Wie blickst du auf diese Zeit heute zurück? Du hast gerade erzählt von dieser ersten Bewegung, wo du Aua gesagt hast. Da erwartet man, dass es da sehr disziplinarisch zugeht.

Annett Göhre:
Ich war … Acht Jahre geht diese Ausbildung, von 10 bis 18. Während ich da war, fiel dann auch die Mauer. Also das war eine ganz irre, aufregende Zeit auch. Das war dann auch für die Schule erstmal nicht klar: Wie geht es weiter, wie kann man das dann jetzt in das neue System irgendwie überführen? Was heißt das für den Abschluss? Also heutzutage kann man da Abitur machen. Damals konnten wir das nicht, also, ne, das war gar nicht so einfach. Das war extrem streng auf der Schule. Es ging sehr viel um Disziplin, es war hart. Damals herrschte auch wirklich noch ein anderer Ton, es wurde nicht so viel über Motivation gearbeitet, sondern sehr viel mit Druck. Nichtsdestotrotz habe ich aber auch sehr gute Erinnerungen an diese Schule. Diese Disziplin hat mir auch eine große Stärke mitgegeben, ich habe dadurch auch sehr, sehr viel gelernt. Und das hat mich auch sehr getragen in meinem Leben. Ich bin, dadurch dass ich so früh auch von zu Hause weggegangen bin, auch sehr früh selbständig geworden. Ich hatte eine ganz tolle Zeit auch im Internat. Ich habe das geliebt, ich bin Einzelkind, und war dann plötzlich mit, ich weiß nicht 50, 60 anderen Schülern und auch Älteren zusammen im Internat. Und es war aufregend, das war einfach richtig aufregend und das war eine richtig tolle Zeit und wir haben da Sachen erlebt ... Zum Beispiel gab es immer halbjährliche Prüfungen und zu diesen Prüfungen hat man natürlich dann seiner Lehrerin und dem Korrepetitor oder der Korrepetitorin eben einen großen Blumenstrauß überreicht. Und wir stellten an dem Abend vor der Prüfung fest, dass wir vergessen haben, Blumen zu besorgen. Wir haben es einfach vergessen, in diesem ganzen Prüfungsstress und immer üben, üben und dann noch mal extra in den Ballettsaal gehen und es noch mal üben und die Drehungen sind noch nicht perfekt und so … Und es fiel uns wirklich erst an dem Abend davor ein und es war schlimm, das war furchtbar. Was haben wir also gemacht? Wir mussten ins Bett gehen, ich weiß nicht mehr um 8 oder um 9, wann unsere Zeit war … Haben uns dann heimlich aus dem Fenster aus dem Internat geschlichen und sind in die Berliner Hinterhöfe und haben dort Blumen geklaut und haben dann daraus zwei Blumensträuße gebastelt, die wir dann am nächsten Tag nach der Prüfung der Lehrerin und der Korrepetitorin überreicht haben.

Christian Stolz:
Das hat also noch gut funktioniert. Du warst nach dem Abschluss Tänzerin der Schule am Gärtnerplatztheater in München. War das das erste Engagement nach der Schule?

Annett Göhre:
Nein, nach der Schule bin ich als Hospitantin an die Deutsche Oper Berlin gegangen, bin dann von dort nach Chemnitz, war in Chemnitz fünf Jahre und kam danach dann ans Staatstheater am Gärtnerplatz.

Christian Stolz:
Wie hast du die Zeit dort erlebt und was waren für dich vielleicht im Rückblick so die prägendsten Rollen oder Produktionen, an denen du beteiligt warst?

Annett Göhre:
Die Zeit am Gärtnerplatz war die beste Zeit meines Lebens. Daher stammt der Satz, den ich auch in meinem Solo-Abend verwendet habe, am Ende des Stückes, nämlich: Wenn ich gewusst hätte, dass das die beste Zeit meines Lebens war, wäre ich besser gelaunt gewesen. Also man weiß ja manchmal gar nicht, was für eine tolle Zeit man eigentlich hat, so irgendwie. Und das war eine ganz tolle Zeit, wir waren eine ganz tolle Truppe. Wir waren glaube ich 24 Tänzer, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kamen: zum Teil eher aus dem zeitgenössischen Bereich, zum Teil aus dem klassischen. Philip Taylor, meinem damaligen Direktor, war das extrem wichtig auch wirklich Persönlichkeiten zu haben im Ensemble. Und wir haben sehr viel voneinander gelernt. Wir sind auch sehr respektvoll miteinander umgegangen und haben uns auch wirklich gegenseitig geholfen. Wenn also jemand im klassischen Training, der eher aus dem modernen Bereich kam, bei einer Bewegung nicht genau wusste, wie die funktioniert, dann hat man sie ihm gezeigt, aber es war völlig wertungsfrei, ja? Und umgekehrt genauso … Konnte einem dann der Kollege aus dem zeitgenössischen Bereich eben vielleicht die Bodenrolle zeigen, die man jetzt als klassisch ausgebildete Tänzerin nicht technisch draufhatte. Also diese Zeit hat mich extrem geprägt, auch im Menschlichen. Das spiegelt sich, würde ich auch sagen, wider auch in meiner Art und Weise, Tänzerinnen und Tänzer zusammenzubringen und auf welche Art und Weise ich mit ihnen arbeite und dass mir eben auch unterschiedliche Persönlichkeiten wichtig sind. Und wenn jemand gut auf Spitze tanzen kann, dann das genauso zu benutzen wie den zeitgenössischen Tanz, also beides zusammenfließen zu lassen. Du hast mich gefragt, was meine wichtigsten Rollen waren. Was sehr, sehr wichtig für mich war, war schon von Philip Taylor die Choreografie »A(t)tempting Beauty«, eine Uraufführung. Das war ein ganz wichtiges Stück für mich, wo ich damals die Hauptrolle hatte. Aber auch Gastchoreografen und -choreografinnen waren sehr wichtig und sehr prägend. Also ich erinnere mich da an Jennifer Hanna, »Torn, Stone and Hiccup« war auch so ein ganz besonderes Stück für mich, weil Jennifer Hanna auch so eine ganz besondere Atmosphäre schaffen konnte und sich das unheimlich eingeprägt hat und es auch physisch sehr, sehr schwer war zu erreichen, was sie wollte, ihr auch gerecht zu werden. Und es hat ja auch so eine ganz eigene Kraft, so eine ganz eigene Sprache. Also das hat sich sehr, sehr eingeprägt. Aber auch Dinge, an denen man vielleicht … mit denen man vielleicht nicht so glücklich war, also zum Beispiel Dylan Newcomb hat auch eine ganz spannende Produktion gemacht, die sich für mich damals nicht in jedem Detail so richtig erschlossen hat und was vielleicht für mich damals nicht so ganz aufging, alles in allem, aber im Großen und Ganzen mich doch sehr geprägt hat und ich da im Nachhinein doch sehr viel mitgenommen habe und sehr viel auch noch weitergedacht habe. Was mich als Tänzerin und als Künstlerin vielleicht auch vorangebracht hat.

Christian Stolz:
Und damals, in deiner Zeit dort am Theater, wie viele Produktionen ungefähr hattest du in so einer Spielzeit und wie kann man sich das so ungefähr vorstellen? Also ist man quasi permanent in Produktionen? Man hat ja oft auch den Eindruck, so eine Tänzerkarriere an einem Theater, das ist wirklich ein Turboleben, das geht die ganze Zeit durch. Das war vermutlich auch bei dir so.

Annett Göhre:
Das war absolut so und ich sage mal so, das ist natürlich auch gut so, weil so ein Tänzerleben ist auch kurz, also nicht das Leben, sondern die Karriere. Und insofern habe ich das auch immer genossen und ich wollte das immer so. Nichtsdestotrotz hat es mich auch mitunter an meine Grenzen gebracht. Also ich erinnere mich noch die erste Spielzeit in München eben, da hatten wir diverse Wiederaufnahmen und Neuproduktionen und die, die in dieser Saison neu gekommen waren … Wir hatten, glaube ich sechs Produktionen zu lernen, das war schon ordentlich, also das war schon ganz schön viel auf einmal. Und ich weiß noch, dass ich in dem Sommer dann zu einer guten Freundin nach Bulgarien eingeladen war und ich saß eigentlich diese zehn Tage, die ich dort war, nur im Liegestuhl, weil ich nicht mehr konnte und das entsprach gar nicht meiner Natur. Aber das war schon sehr fördernd und fordernd. Also das war schon extrem anstrengend, aber ich möchte es auch nicht missen, denn wenn es dann vorbei ist und man nicht mehr tanzt, erst dann weiß man vielleicht so richtig, was man auch daran hatte und dass das auch nie mehr wiederkommt, diese Zeit, wo man ja doch auch getragen wird vom Publikum. Das ist so ein Hochgefühl, wenn am Ende der Vorhang fällt und dann das Publikum einem Applaus zollt und man sich vor seinem Publikum verneigen kann und auch schon während der Vorstellung: Dieses Zwiegespräch, was man hat mit dem Publikum, das hat man danach nicht mehr. Und auch wenn ich meinen Weg überhaupt nicht bereue und ich sehr, sehr glücklich bin mit dem, was ich jetzt bin und mit dem, was ich jetzt mache und ich fast das Gefühl habe, mich da künstlerisch, kreativ noch mehr ausdrücken zu können, aber diesen Applaus nach der Vorstellung ... Man steht da nicht da, man hat es nicht mehr so direkt. Ne, das ist schon was anderes und deshalb glaube ich auch, wenn es einem manchmal schwerfällt, weil man so erschöpft ist und auch müde ist, sollte man sich das immer vor Augen führen, dass es eben für uns, anders als jetzt vielleicht für einen Sänger oder eine Schauspielerin, viel früher vorbei ist.

Christian Stolz:
Karrieren von Tänzerinnen, von Tänzern enden oft in den 30er-Lebensjahren. Das weiß man wahrscheinlich schon vorher. Aber kann man sich trotzdem darauf vorbereiten, oder bereitet man sich schon in der Zeit quasi vorher darauf vor, wie es danach weitergehen könnte, was du gerade auch so schön beschrieben hast, wenn dann eben diese Zeit auf der Bühne endet?

Annett Göhre:
Also ich finde, dass heutzutage die Tänzerinnen und Tänzer sich viel, viel besser darauf vorbereiten als wir damals. Das ist sehr gut so und da kann man nur wirklich den Kolleginnen und Kollegen einfach Respekt zollen. Das machen die richtig gut. Wir haben das damals nicht gemacht, was aber vielleicht auch damit zu tun hatte, dass damals noch eine ganz andere Lebensmaxime galt. Damals galt noch: Alles oder nichts! Und: Du kennst nur eines, nur den Tanz! Nur wenn du hundertprozentig nur an den Tanz denkst, nur dann kannst du eine wirklich gute Tänzerin werden und sein! Und insofern haben wir uns ein bisschen schwer getan damit, ein bisschen rechts und links zu schauen während dieser Zeit. Es ist auch vielen, die ich kenne aus der damaligen Zeit, durchaus ein bisschen auf die Füße gefallen, die dann erstmal in ein ganz, ganz großes Loch gefallen sind, als diese Karriere, dieser Teil ihres Lebens vorbei war. Und was sehr, sehr bedauerlich ist und was viele sehr viel Kraft gekostet hat, dann auch da etwas Adäquates zu finden, ja, was einen so erfüllt. Wenn man in der ersten Hälfte seines Lebens etwas hat, was einen so erfüllt, jede Faser des Körpers … Was eben mehr ist als ein Beruf, was einfach der größte Wunsch ist. Wo viele ja schon als kleine Kinder angefangen haben, darauf hinzuarbeiten, mit einer ganz großen Zielstrebigkeit und Disziplin. Und dann ist es vorbei, das ist schon … Da muss man eigentlich schon gut mental vorbereitet sein, und darauf wurde früher bei uns in meiner Zeit an den Schulen und so weiter überhaupt keine Rücksicht genommen oder überhaupt nicht mal darauf hingearbeitet oder mal gesagt: Mensch, denk auch mal drüber nach, was dir vielleicht auch sonst Spaß macht, noch nebenbei, ein Hobby, was du vielleicht danach zum Beruf machen könntest und so. Wir durften weder Hobbys haben noch uns irgendwie für irgendetwas anderes interessieren. Und heute einige der Tänzerinnen und Tänzer, heute im Ensemble, die studieren nebenbei, die bereiten ihr nächstes Leben vor sozusagen, und das ist sehr, sehr gut so und ich versuche auch das so wie ich kann nach Leibeskräften zu unterstützen, weil ich das für sehr, sehr wichtig erachte.

Christian Stolz:
Wie ist deine Erfahrung, dass man dann tendenziell im Bereich Tanz, Körper, Kunst bleibt? Oder machen viele auch etwas komplett anderes dann und gehen bewusst einen anderen Weg? Auch was du gerade beschrieben hast: Dieses Gefühl von, meine erste Lebenshälfte, wenn man es so nennen will, war so erfüllt, muss danach etwas anderes kommen?

Annett Göhre:
Das ist ganz unterschiedlich. Da gibt es ganz verschiedene Konzepte. Das muss auch jeder für sich selbst entscheiden. Es gibt schon viele, die auch gerne weiter etwas mit Bewegung machen wollen, die zum Beispiel dann Pilates-Trainer oder Gyrotonic oder in diese Richtung gehen oder generell Lehrer werden, die dann Kindern Ballett beibringen oder in dieser Art, oder Physiotherapeuten. Es gibt aber auch Kollegen, die Versicherungsvertreter geworden sind oder ganz tolle Fotografen und Fotografinnen. Gerade wenn man selber getanzt hat, ist man eigentlich prädestiniert dafür, eine gute Tanzfotografin zu werden oder Fotograf, weil man dann eben das Auge für Tanz hat und eben dann auch genau weiß, wann man abdrücken muss und wann der Moment kommt, wo der Sprung seinen Höhepunkt erreicht haben wird. Man kann es dann besser vorausahnen oder man weiß aus welchem Winkel man fotografieren muss, zum Beispiel, damit die Linie gut aussieht.

Christian Stolz:
Du hast gerade schon angedeutet und einige Zuhörerinnen und Zuhörer werden es erlebt haben, selber vielleicht hier im Podium im Theater: Du hast ein eigenes Solo gemacht über diese Erfahrungen als Tänzerin früher. Aus welchem Impuls und wie hast du das erlebt? Denn ich kann mir vorstellen, dass dieses Stück wahrscheinlich damals, unmittelbar nachdem du das Gärtnerplatztheater verlassen hast … dieses Stück nicht unbedingt hätte so entstehen können, wie es jetzt entstanden ist, vor, ich glaube ungefähr zwei Jahren war das, fürs Podium.

Annett Göhre:
Ich muss dazu sagen, dass dieses Stück, als ich es damals ursprünglich gemacht habe, nicht direkt nach dem Weggang vom Gärtnerplatz war. Wenn ich mich recht erinnere, war das 2014 und ich bin 2005 vom Gärtnerplatz weggegangen, also auch da lag eine gewisse Zeitspanne dazwischen, wo ich schon als freischaffende Choreografin, aber auch noch als Tänzerin gearbeitet habe. Und das war auch gut so. Ich habe zu all diesen Dingen, die ich in diesem Stück behandelt habe, eine sehr gute, gesunde Distanz, weil ja zum Teil das doch auch Themen sind, die sehr tief reingehen. Ne, es geht um Dinge, die man verarbeiten muss, wie: wie Lehrer mit einem gesprochen haben oder was … Enttäuschungen, die man in seiner Karriere erlebt hat. Das Gefühl, nicht gut genug gewesen zu sein, zu dick zu sein und all das. Aber ich habe da so eine gute Distanz gehabt, schon damals, als ich das Stück zum ersten Mal machte, dass ich damit kein Problem hatte, das auch in seiner Schärfe anzusprechen, aber auch mit Humor eben damit umzugehen und auch ein bisschen selbstentlarvend vielleicht.

Christian Stolz:
Du warst dann zwischen 2005 und 2015 ungefähr freiberuflich unterwegs als Tänzerin und dann auch als Choreografin. Wie war für dich dieser Schritt zur Choreografin und wie ist der zustande gekommen?

Annett Göhre:
Angefangen zu choreografieren habe ich in Chemnitz, als ich dort engagiert war. Und zwar war das sehr lustig, denn damals gab es nicht so wie heute diese Junge-Choreografen-Abende, ne, dass Ensemble-Mitglieder choreografieren können. Und ein Tänzer-Kollege hatte totales Interesse daran, selbst zu choreografieren und der wollte also gern so einen Junge-Choreografen-Abend ins Leben rufen. Es gab nur aber in der 36-köpfigen Compagnie damals in Chemnitz niemanden, der da gerne mitmachen wollte, also als Choreograf oder Choreografin. Und der bekniete mich also und bat immer wieder darum, dass ich doch bitte da auch ein Stück machen soll, weil das Ding heißt »Junge Choreografen« und dann gibt es nur von einem Choreografen ein Stück nach dem anderen. Und ich wollte das, aber ich wusste gar nicht, was der von mir will, also ich hatte überhaupt keine Ambitionen und habe mich, wie man so schön sagt, von dem breitschlagen lassen. Bis ich dann gedacht habe: Na gut, dann mache ich jetzt halt auch ein Stück. Und das ist eben … Wie ich vorhin auch bei »Sacre« erwähnte, eben genau diese Chuzpe. Ich habe nämlich dann … Mein Erstlingswerk war ein Stück von sage und schreibe 40 Minuten, wo ich mir aus heutiger Sicht denke: Wieso habe ich denn nicht mal mit einem 5-Minüter angefangen? Nein! Ich habe ein vierzigminütiges Stück gemacht, für das ich damals auch extra einen DJ aus Berlin geholt habe, der live auf der Bühne dann mit mir gearbeitet hat, das war Rex Joswig, DJ Rex Joswig. Der hatte eine ganz tolle Radiosendung damals in dieser Zeit und hat eben eine ganz tolle Sprechstimme auch gehabt und hat dort immer dann so in seiner Radiosendung rumänische Lyrik der Gegenwart gelesen und so. Das fand ich so toll, dass ich gedacht habe, den will ich in meinem Stück haben. Und dann bin ich zu dem nach Berlin gefahren und saß dann, da gab es noch keine Handys und so, und hab irgendwie die Adresse von dem herausgefunden und dann habe ich bei dem geklingelt, also vorher natürlich mal angerufen, und habe ihm erklärt: Also ich mache jetzt hier ein Stück und ich hätte dich gern dabei und Geld habe ich aber nicht, aber es wäre schon gut, wenn du kommen würdest. Und das hat er dann auch gemacht. Also das war mein erstes Stück, das hieß »Wo der Wind die Kurve macht«, dauerte 40 Minuten und das ist genau die Chuzpe, von der ich vorhin sprach, die man vielleicht nur als junger Mensch hat, so richtig, ne, dass man so denkt: Was kostet die Welt, dann probiere ich das halt mal. Und dann, als ich in München war, dort war das dann schon eher üblich. Da hatten wir auch öfter Junge-Choreografen-Abende, und da gab es auch viel Interesse aus dem Ensemble, und dort hat sich das dann so ein bisschen verstetigt, dass ich also dann auch immer ein Stück gemacht habe. Und ich hatte großes Glück, weil Philip Taylor, also der Direktor der Compagnie, mich dann bat, ein Stück für die Compagnie zu machen. Also er hat ein Stück in meinem ersten Jahr, was ich dort gemacht habe, das war ein Solo, das hieß »Duett«, hat er gesehen und bat mich dann im nächsten Jahr an einem Abend für die Compagnie etwas zu choreografieren. Das war natürlich ein Ritterschlag für mich. So ging es dann los, dass ich immer mehr in diese choreografische Richtung gegangen bin oder dass ich das dann auch schon mitgedacht habe und da auch durch Philip eben sehr unterstützt wurde. Und als Philip Taylor mich bat, für die Compagnie ein Stück zu choreografieren, hat er auch einen Kollegen von mir gefragt, nämlich Cayetano Soto, das ist heute ein weltweit bekannter und gefragter Choreograf. Wir beide waren also die ersten, die Philip damals gefragt hatte, und wir haben … Uns hat eine enge Freundschaft verbunden, und wir haben damals schon immer so über unsere Wünsche und Träume gesprochen. Und er hat immer gesagt: Ich möchte mal weltbekannt sein. Und ich habe immer gesagt: Und ich will mal Ballettdirektorin sein, also schon von Anfang an stand das fest, und zwar nicht weil ich unbedingt Direktorin sein wollte, sondern weil für mich klar war, dass die Art und Weise, wie ich arbeite, auf so eine längerfristige Zeit ausgelegt ist. Und dass ich nicht immer nur 6 Wochen oder 8 Wochen oder 12 Wochen wieder zu einem neuen Ensemble gehen will und dann erklären will: Also ich bin Annett und ich arbeite so und das ist mir wichtig. Sondern dass ich mit Künstlerinnen und Künstlern über einen längeren Zeitraum arbeiten möchte und da auch was aufbauen möchte und da auch ein gegenseitiges Verständnis und ein Vertrauen erreichen möchte einfach.

Christian Stolz:
Du warst dann also Choreografin und dann kam der nächste Schritt, was du eben damals schon als Wunsch geäußert hattest. Du warst von 2015 bis 2022 Ballettdirektorin am Theater Plauen-Zwickau und nun seit 2023 Tanztheaterdirektorin hier am Theater Ulm. Was ist denn noch mal der Schritt weiter zur Direktorin und was sind deine Aufgaben?

Annett Göhre:
Im Grunde genommen hat man als Direktorin und Chefchoreografin, wie diese Bezeichnungen ja auch schon vermuten lassen, eigentlich zwei Aufgabenbereiche auf einmal. Nämlich zum einen das der Choreografin, also welches Stück macht man gerade, man kreiert dieses oder jenes Stück und hat eben alle Aufgaben, die damit zusammenhängen, also die Proben, die Bühnenproben, die Ausstattung, alles, was eben sich um eine Produktion dreht. Und als Direktorin hat man halt alles darüber hinaus, also die eigentliche Vision für ein Ensemble. Welche Stücke will man aufführen, welche Gäste will man einladen? Aber auch das Tagesgeschäft: Welche Proben finden wann statt? Wie viele Proben braucht man für ein Stück? Wann kann der Gast da sein? Welcher Tänzer oder welche Tänzerin will wann Urlaub haben? Oder … so. Krankheitsvertretung, freie Tage, also die ganze Organisation. Wie so ein Tanzensemble geleitet wird eben. Also alles, was dazu gehört.

Christian Stolz:
Du hast gerade erzählt, dazu gehört auch die Entwicklung eines Spielplans für eine Spielzeit, also eine Theatersaison, wie wir das nennen, ein Jahr. Wie entsteht denn so ein Spielplan für Ulm, so ein Tanztheater-Spielplan, den du ja verantwortest?

Annett Göhre:
Grundsätzlich versuche ich immer, mir zu überlegen: Wie kann ich dem Publikum eine möglichst große Bandbreite an Tanz mit unserem Spielplan präsentieren? Das meint sowohl in der thematischen Auswahl als auch zum Beispiel in den Orten oder der Musik. Also so kam es zum Beispiel dann auch zustande, dass wir eben letztes Jahr dieses Stadtprojekt gemacht haben, wo ich gedacht habe, das wäre doch mal toll, wenn wir verschiedene Orte der Stadt betanzen und wenn die Tänzerinnen und Tänzer das nutzen, um eben kreativ zu sein. Es heißt aber auch, dass ich oft versuche, nicht zwangsläufig, aber einen Klassiker zum Beispiel zu nehmen, also ein Stück, was man auch kennt vom Namen vielleicht. Und dann ein Thema, was vielleicht ein bisschen eher abstrakt ist oder vielleicht auch ein bisschen mehr irritiert oder vielleicht auch ein bisschen zeitgenössischer ist. Und das dann so zusammenzubringen, quasi, also dass man da ein bisschen von vielen unterschiedlichen Enden her denkt.

Christian Stolz:
Und du hast gerade schon erzählt, da fließen ja verschiedene Bereiche in diese Position hinein: das Organisatorische, das Künstlerische. Sicherlich kannst du als Tanztheater-Direktorin ein Ensemble prägen, sicherlich anders als es ein Gast-Choreograf kann, der für eine Produktion zum Beispiel eingeladen ist. Macht dir das Freude an dieser Position, dass du wirklich mit einem Ensemble arbeiten kannst und das weiterentwickeln kannst?

Annett Göhre:
Genau das ist es, warum ich das, was ich mache, so liebe. Weil ich kann natürlich die Tänzerinnen und Tänzer prägen, aber umgekehrt prägen die mich ja auch. Und diese Art des Austauschs, die ist einfach so etwas Wunderbares. Und ich liebe wirklich die Zeit im Studio, ich liebe die Workshops, ich liebe auch, wenn es stressig ist. Ich sage mal so, ich mache diesen Job bestimmt nicht so gerne, weil ich so gerne am Computer sitze und Pläne schreibe und Organisationen mache, also das ist es sicherlich nicht. Alles andere aber, für alles … für all das andere lohnt sich das eben. Ich liebe die Bühnenproben, ich liebe es, wenn man zum ersten Mal auf die Bühne kommt und dann zum Beispiel das Bühnenbild sieht. Ich liebe, wieviel wir immer lachen in den Proben, also auch gestern, du warst ja selber dabei, als du einmal dann bei einer Bühnenprobe um die Ecke geschaut hast bei uns: Wenn was schiefgeht, lachen wir unheimlich viel. Ich weiß nicht, in welchem Beruf man so viel zu lachen hat eigentlich, obwohl es natürlich total anstrengend ist und so. Aber es ist schon einfach ein toller Job.

Christian Stolz:
Seit Herbst 2023, bist du hier in Ulm. Hattest du das Gefühl, dass es dir leichtfiel, hier in der Stadt anzukommen und hier am Theater? Wie hast du die erste Zeit hier empfunden?

Annett Göhre:
Es fiel mir total leicht. Ich finde, das Publikum hier ist toll, wirklich. Ich war von Anfang an total begeistert, wie viele Menschen gerne häufig ins Theater kommen. Also ich sehe Menschen, die kommen wirklich in alle Vorstellungen irgendwie. Ich glaube, die haben gar keine Zeit für irgendwas anderes, deren Hobby ist es, ins Theater zu kommen: junge Menschen, Menschen von außerhalb auch von Ulm, also ich finde das richtig toll. Ich finde, dass das Publikum hier sehr warmherzig ist, auch offen. Wir haben ja durchaus schon ganz unterschiedliche Stücke, auch in dieser kurzen Zeit, in den anderthalb Jahren, jetzt schon dem Publikum geboten, und sie sind immer wieder mit einer großen Neugier und einem großen Interesse in die Vorstellung gegangen. Und auch am Haus selber bin ich wirklich ganz toll aufgenommen worden, sowohl in den technischen Abteilungen, wirklich überall. Also ich bin ganz, ganz happy und fühle mich sehr, sehr wohl, bin auch sehr glücklich über die Tatsache, wie nah hier alles ist. Ich habe ja vorher in Plauen-Zwickau gearbeitet und da war eben ein Theater auf zwei Städte verteilt und das war hochgradig kompliziert. Also, und hier gehe ich einmal in eine Etage höher und klappere dann die einzelnen Zimmer ab, steck meinen Kopf rein, sag mal Hallo. Als erstes fange ich morgens beim Herrn Metzger an, der dann schon immer die Augen verdreht, weil die Göhre schon wieder dasteht und irgendetwas will. Aber das ist eben wahnsinnig praktisch, dass man so schnell auf direktem Wege einfach, auf kurzem Weg, das klären kann. Und es hat in Plauen-Zwickau einfach, hatte viel längere Wege, hat alles viel länger gedauert.

Christian Stolz:
Und du prägst als Chefchoreografin und als Direktorin das Ensemble, holst dir aber auch, wenn man schon mal auf die nächste Spielzeit blickt, immer wieder Gastchoreografen, Gastchoreografinnen dazu. Also auch dieser Austausch ist quasi wichtig, dass man das Ganze auch über die eigene Arbeit hinaus am Austausch festhält mit anderen Komplizen, nenne ich sie jetzt mal.

Annett Göhre:
Absolut. Das ist für die Tänzerinnen und Tänzer wichtig, andere Stile zu haben, andere Arbeitsweisen kennenzulernen. Das ist für mich auch immer wieder eine Inspiration, Kollegen und Kolleginnen bei der Arbeit zuzuschauen, das ist eine Bereicherung. Je mehr Vielfalt man haben kann, umso bereichernder ist es doch, umso beflügelnder auch für die eigene Fantasie.

Christian Stolz:
Jetzt hast du gerade schon von deinen verschiedenen Bereichen als Direktorin erzählt, die hier zusammenfließen. Wenn man sich so einen Tag bei dir jetzt mal bildlich vorstellt, wie läuft so ein Tag bei dir ab?

Annett Göhre:
So ein Tag läuft ungefähr so ab, also ein durchschnittlicher Tag, probieren wir mal einen durchschnittlichen Tag zu nehmen, jetzt keinen Tag bei den Endproben, wo der Stress dann noch mal ein ganz anderer ist und auch vielleicht die Arbeitsbelastung noch mal eine andere ist. Ein durchschnittlicher Tag sieht so aus, dass ich 08:30 Uhr ungefähr im Büro bin und erstmal eine Stunde wirklich dann Zeit habe für das Tagesgeschäft: Tagesplan, irgendwelche E-Mails, die beantwortet werden müssen. Man kriegt ja auch manchmal Zuschauerzuschriften und dergleichen. Und irgendwelche Dinge, die erledigt werden müssen. Dann, wenn ich es schaffe, gehe ich sehr gerne, um 09:30 Uhr in den Ballettsaal und wärme mich auf, um dann 10:00 Uhr am Training teilzunehmen. Also so oft ich kann, meistens drei-, viermal die Woche, trainiere ich auch noch selber mit. Und dann habe ich meistens Probe, wie die Tänzer auch, wenn wir jetzt in einer Kreation sind. Von 11:35 Uhr bis 14:00 Uhr ist dann Probe. Und wenn wir einen geteilten Tag haben, dann habe ich den Nachmittag, um zum Beispiel die Abendprobe vorzubereiten oder weiter irgendwelche Dinge zu machen, die meine Aufmerksamkeit im Büro erfordern oder zum Beispiel um einen Podcast mit dir aufzunehmen, lieber Christian, oder dir Fragen fürs Programmheft zu beantworten, oder, oder, oder. Und dann habe ich abends wieder Probe von 18 bis 21:00 Uhr, Pi mal Daumen, 21:15, 21:30 so.

Christian Stolz:
Das erste Stück, mit dem du hier in Ulm gestartet bist, das war »Marie! Romy! Petra!«, ein Tanztheaterabend über drei berühmte weibliche Persönlichkeiten. Ein Abend, den du schon am Theater Plauen-Zwickau entwickelt und hier dann noch mal mit dem Ensemble weiterentwickelt, neu einstudiert hast. Woher kam diese Idee, quasi die Brücke vom einen Theater zum anderen Theater zu spannen, und worauf können wir uns in der Zukunft freuen?

Annett Göhre:
Also diesen Abend, »Marie! Romy! Petra!«, hatten Kay Metzger und Dr. Katzschmann sich damals angeschaut im Zuge der Direktorenfindung hier und ich glaube, der hat ihnen ganz gut gefallen und daher kam dann eigentlich die Idee, den doch hier auch zu machen. Und für die Zukunft denke ich, dass man nach wie vor gespannt sein kann, weil ich doch auch immer mal wieder für eine Überraschung gut bin.

Christian Stolz:
Und wenn du dann mal auch nach langen Tagen das Theater verlassen kannst oder es eben auch freie Phasen gibt, was machst du denn gerne in deiner Freizeit in Ulm oder um Ulm herum?

Annett Göhre:
Also es ist glaube ich hier am Theater kein Geheimnis, dass ich gerne, um den Kopf frei zu kriegen, gerne mal einen Kuchen backe. Da freuen sich die Tänzerinnen und Tänzer dann durchaus auch mal drüber, weil die dann in den Genuss kommen. Bei mir geht es tatsächlich eher ums Backen, die kommen dann in den Genuss den zu essen und ansonsten ich esse sehr gerne, koche auch gerne mir selber, was ich dann esse, koche auch gerne für andere. Ich trinke dazu sehr gerne ein gutes Glas Wein, ich habe gerne gute Gespräche, lese auch gerne mal ein Buch oder gehe spazieren und besonders gerne schlafe ich.

Christian Stolz:
Zum Backen muss ich aber noch mal kurz zurück. Das heißt, du spendest dem Ensemble regelmäßig gute Kuchen, aber selber bist du gar nicht so scharf drauf, ein Stück davon zu bekommen, oder wie kann man das verstehen?

Annett Göhre:
Also ob die Kuchen, die ich backe, gut sind, das müssen andere beurteilen. Aber auch nicht nur dem Ensemble, glaube ich, sondern auch mal in der Leitungsrunde … Also ich glaube durchaus, einige Kolleginnen und Kollegen sind da schon in den Genuss, oder auch nicht, dieser Kuchen gekommen. Ja, mir geht es tatsächlich um den Vorgang, etwas mit meinen Händen zu machen, ne. Ich arbeite in der Kunst, in einer Profession, bei der ich nichts mit den Händen entstehen lasse und da tut es mir manchmal ganz gut … Gut, so einen Kuchen rühre ich jetzt auch mit dem Rührgerät, aber wirklich das direkt in dem Moment zu machen und dann dabei zuzugucken, wie dieser Kuchen hochgeht und das ist für mich ein guter Ausgleich und eine gute Entspannung tatsächlich. Und das ist so ein einfacher Vorgang, wenn ich das Rezept befolge, dann wird dieser Kuchen auch etwas und da muss ich nicht kreativ sein, kann ich natürlich auch ein Stück weit, aber das ist ein schöner Ausgleich, ist tatsächlich so. Und auch wenn ich mal nachts nicht schlafen kann, was eben ja auch mal vorkommt, wenn eine Produktion einen sehr beschäftigt auch und auch nicht in Ruhe lässt, oder nicht ruhen lässt, dann backe ich einen Kuchen, ja.

Christian Stolz:
Das liegt jetzt so nahe, die Metapher, deshalb muss ich das kurz fragen: Dieses Backen eines Kuchens, das Rezept, das man befolgt, und dann geht dieser Kuchen gut auf, ist das auch etwas, was du hier für deine Produktionen mitnimmst? Das es quasi ein Kuchen ist, der nach und nach gut aufgehen muss?

Annett Göhre:
Das ist eine interessante Frage. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Also ich habe meine Kuchen nie mit meinen Stücken verglichen oder die Arbeitsweise, aber … Nee, ich glaube nicht. Also ich bereite mich für meine Stücke konzeptionell immer sehr genau vor, also ich glaube ich muss so ein Stück konzeptionell für mich durchdringen und dann kann ich es fließen lassen. Dann muss ich auch nicht am Konzept kleben, sondern kann das dann wirklich fließen lassen und auch intuitiv arbeiten. Aber beim Kuchen ist es eben tatsächlich so, dass, wenn ich jetzt zum Beispiel die Rezepte meiner Oma nehme, die sie mir vor ihrem Tod noch aufgeschrieben hat … Und ich habe so ein handschriftliches Rezeptbuch von ihr, das finde ich ganz toll, wenn ich dieses Buch aufschlage und ihre Handschrift sehe … Aber wenn ich da ein Rezept nehme und das einfach genau befolge, was da drinsteht, dann kann da eigentlich nichts schiefgehen. Bei einer Kreation ist es ganz anders, jede Kreation immer wieder aufs Neue kann schiefgehen. Man kann bei jeder Kreation immer wieder aufs Neue scheitern, das ist wahnsinnig nervenaufreibend, das kostet wahnsinnig viel Kraft, viel Energie, das ist auch unheimlich spannend, aber eben auch aufregend. Und so ein Kuchen beruhigt mich da eher.

Christian Stolz:
Das ist sehr schön. Diese Ruhe wünsche ich dir sowohl für deine Kuchenkreationen als auch für deine tänzerischen Kreationen …

Annett Göhre:
Vielen Dank.

Christian Stolz:
Und dass dieser künstlerische Nervenkitzel einfach immer wieder gelingt, mit allem, was gelingt, mit allem, was Experiment ist, dafür ganz viel Erfolg. Es wartet eben jetzt »Sacre«, das Sie im Frühjahr hier am Theater Ulm erleben können, es wartet zum Beginn der nächsten Spielzeit, im Herbst, »Giselle«, ein großes klassisches Ballett …

Annett Göhre:
… auch … auch eines DER Ballette, ne, also auch ein ganz wichtiges Stück.

Christian Stolz:
Und es warten Kooperationen mit dem Theater Koblenz, mit dem ROXY in Ulm, durchaus Partner, die du dir gesucht hast …

Annett Göhre:
Und es warten auch einige Gastchoreografen, die wir eingeladen haben für die nächste Spielzeit. Also das wird ganz spannend.

Christian Stolz:
Annett, vielen Dank für diese Einblicke in deine Tanzkarriere, in deine Arbeit hier am Theater Ulm. Und wir hören uns wieder zur nächsten Folge von »Hinterbühne«, dem Podcast am Theater Ulm.

Annett Göhre:
Vielen Dank.